Dienstag, 27.05.2008




Die wahre Nakba

Von Shlomo Avineri

(Teil II)

Der De-facto-Bruch der palästinensischen Autonomiebehörde, der dem Hamas-Putsch im Gaza-Streifen folgte, ist die Ausweitung des palästinensischen Versagens. Doch selbst jetzt neigen die Palästinenser dazu, Israel, den Amerikanern, der internationalen Gemeinschaft die Schuld zu geben. Wahr ist jedoch, dass die wesentliche Verantwortung ultimativ bei den Palästinensern selbst liegt. Wahlen wurden abgehalten. Die Hamas gewann, die Fatah verlor – und beide Gruppen waren unfähig, einen Rahmen aufzurichten, dessen Legitimität von beiden Seiten akzeptiert worden wäre. Fatah und Hamas sind schließlich nicht nur zwei Parteien, die innerhalb eines demokratischen Konsenses operieren. Sie sind auch bewaffnete Milizen, und ihre Stärke bei den Wahlen wurzelt zum großen Teil in ihrer Militärmacht. Alle pan-arabischen Versuche, sie zu vereinen - wie das Mekka-Abkommen, das im vergangenen Jahr von Saudi-Arabien ausgehandelt wurde -, scheiterten angesichts dieser Realität, die zeigt, dass die Macht in der palästinensischen Gesellschaft im Grunde aus dem Gewehrlauf kommt (wie Mao Tse-Tung einmal in einem anderen Zusammenhang sagte).

Der gewalttätige Militärputsch der Hamas im Gaza-Streifen gegen etwas, von dem angenommen worden war, es sei der Ort der palästinensischen Legitimität, ist nur eine Wiederholung - unter anderen Bedingungen - der palästinensischen Bandenkriege aus den Jahren 1938 und 1939. Die Tatsache, dass es kein Modell für einen folgenden arabischen demokratischen Staat gibt, hilft ebenfalls nicht eben weiter.

Um es klar zu machen: Diese Worte werden nicht geschrieben, um die Legitimität der palästinensischen Bewegung oder das Recht der Palästinenser auf einen Staat in Frage zu stellen. Sie sind dazu gedacht, ein tief liegendes internes gesellschaftliches Versagen aufzuzeigen. Die Palästinenser vermeiden es, sich diesem Versagen zu stellen, und viele Israelis ignorieren dies, denn oft wird der israelische Diskurs über das palästinensische Thema aus der begrenzten Perspektive der Sicherheitsbedenken geführt. Darüber hinaus vermeiden es Teile der israelischen Linken - die zu Recht durch die andauernde Besatzung aufgewühlt sind - aus Gründen der political correctness, die Palästinenser selbst für ihre Situation verantwortlich zu halten. Doch solch eine Bevormundung ist nicht hilfreich für die Palästinenser.

Was jetzt im Gaza-Streifen geschieht, ist die wahre palästinensische Nakba: die Tendenz, äußeren Faktoren die Schuld zu geben, lässt die Konturen verschwimmen. Die palästinensische Gesellschaft ist sich eindeutig in Not, und zu großen Teilen auf Grund der 40jährigen Besatzung. Doch dies ist eine zu einfache Ausrede: In den Jahren nach 1945 wäre es für den Yishuv einfach gewesen, der britischen Herrschaft, der arabischen Opposition und dem Trauma der Shoah die Schuld zu geben und sich im Sumpf der Selbstgerechtigkeit zu suhlen und dabei zu erklären, warum ein jüdischer Staat unter solch schwierigen Bedingungen nicht gegründet werden könnte. Doch das von Herzl geschaffene Rahmenwerk der zionistischen Bewegung mit ihren gewählten Institutionen, ihrer Mehrparteienvielfalt, die in einer grundsätzlichen Solidarität verankert war, und der Formulierung einer nationalen Autorität trotz Fällen von Unstimmigkeiten und Absplitterungen – all dies lieferte eine organisatorische und institutionelle Basis, die es möglich machte, die menschlichen und wirtschaftlichen Ressourcen einzusetzen, die nötig waren, um mit der harten Realität, die auf die UN-Teilungsresolution folgte, umzugehen.

Das Schicksal der Palästinenser ist nun in der Schwebe, und es liegt in ihren eigenen Händen. Diejenigen, die auf die palästinensische Geschichte blicken, werden sich nur schwer vorstellen können, dass Fatah und Hamas ihren Streit niederlegen und ein gemeinsames, legitimes Rahmenwerk schaffen werden. Vielleicht können Ägypten oder Saudi-Arabien die Unterzeichnung des einen oder anderen Schriftstückes - wie z. B. das Mekka-Abkommen - fördern. Doch entscheidend ist nicht ein Stück Papier, sondern ein effektives Schultern der Last einer gemeinsamen Legitimität, die notwendig ist, um eine Nation aufzubauen. Solch ein Rahmenwerk muss die Entwaffnung von Milizen beinhalten und das Betrauen einer nationalen Autorität mit dem Monopol über die Anwendung von Gewalt. Ohne dies wird es auch keine Möglichkeit eines Abkommens mit Israel geben, was wichtig für die Gründung eines palästinensischen Staates ist.

Diese Dinge sollten deutlich gesagt werden, so schwer sie auch sein mögen: Wenn die Palästinenser keinen Weg finden, sich selbst aus ihrer harten historischen Realität zu befreien, werden sie am Ende keinen Staat haben. Dies wird sowohl für sie als auch für Israel schlecht sein.


(Haaretz, 09.05.2008. Teil I erschien im Newsletter von gestern, 26.05.08)

Shlomo Avineri ist Emeritus für Politische Wissenschaften an der Hebräischen Universität Jerusalem.