Von Avi Becker
Wie in einem konditionierten Reflex hat der UN-Menschenrechtsrat in Genf vergangene Woche die Einrichtung eines unabhängigen internationalen Untersuchungsausschusses zur Prüfung eines Verstoßes gegen das internationale Recht beim israelischen Angriff auf die Gaza-Flottille beschlossen. Wie kaum verwundert, wurde der Antrag von Pakistan und dem Sudan gemeinsam mit den Palästinensern eingereicht, die gewohnt sind, die Tagesordnung und die Entscheidungen des Rates zu bestimmen.
Diesmal wurde jedoch insofern ein Präzedenzfall geschaffen, als die Sitzung als „Notberatung“ definiert wurde, was einer Herausforderung des Weltsicherheitsrats in New York nahe kommt, der laut UN-Charta allein für den Umgang mit Ausnahmezuständen und Bedrohungen für Weltfrieden und Weltsicherheit verantwortlich ist. Der UN-Vollversammlung und ihren Einrichtungen ist es untersagt, über Themen zu beraten, über die der Sicherheitsrat noch nicht entschieden hat.
Wie bei der ursprünglichen Einrichtung der Goldstone-Kommission wegen der Operation Gegossenes Blei im Januar 2009 sieht der Menschenrechtsrat auch diesmal von dem militärischen Konflikt und dem Kriegszustand zwischen Israel und dem Hamas-Regime im Gaza-Streifen ab. Darüber hinaus hat Pakistan, das in den Beratungen der vergangenen Woche die Organisation der Islamischen Konferenz (56 Staaten) vertritt, nicht seine politischen Absichten hinter der Entscheidung verschleiert und erklärt, dass es auf die Auslöschung von 60 Jahren israelischer Besatzung in Palästina abziele, was sich also auch auf israelisches Territorium vor 1967 bezieht.
Auch die Goldstone-Kommission, die Israel der Kriegsverbrechen bezichtigte, hatte sich nicht die Mühe gemacht, in dem langen und ausführlichen Bericht auf die Hamas-Gründungscharta einzugehen, die unter Verstoß gegen die UN-Charta von der Auslöschung des Staates Israel spricht und Worte des Propheten Mohammed zur Ermordung von Juden zitiert.
Dass Genf und der UN-Menschenrechtsrat zu einem Entscheidungszentrum im Bereich des internationalen Rechts geworden sind, erhöht die Gefahr einer Zerschlagung der rechtlichen Legitimität des UN-Apparats insgesamt. Auch der Sicherheitsrat, der angesichts des Waffenschmuggels an die Hisbollah, welcher einen schweren Verstoß gegen seine Entscheidung hinsichtlich des Libanons darstellt, Machtlosigkeit bewies, hat in seiner Präsidiumserklärung zur Seeblockade davon abgesehen, dass sich die der Hamas der Zerstörung Israels verpflichtet fühlt.
Eine Seeblockade in Fällen von bewaffnetem Konflikt ist durch die Kriegsregelungen des internationalen Rechts voll gedeckt, wie auch durch die Helsinki-Prinzipien in Bezug auf die Seeneutralität und den Vertrag von San Remo. Israels Recht auf Selbstverteidigung rührt von dem Wesen der Bedrohungen her und dem Raketenbeschuss seines Territoriums aus dem Gebiet, das effektiv dem Hamas-Regime untersteht. Gegenüber kriegerischen Aktivitäten, der Verpflichtung zu Jihad und der Gewalt, die an Deck der ‚Marmara’ zu beobachten war, ist es schwer sich hinter den humanitären Normen der Genfer Konventionen zu verstecken, die zu Abwägung und Verhältnismäßigkeit aufrufen.
Da auch in Israel eine interne Debatte über die Einrichtung eines „unabhängigen, glaubwürdigen und transparenten Untersuchungsausschusses“ geführt wird, ist es wichtig zu verstehen, dass beim gegenwärtigen Verhalten des UN-Apparats und der Menschenrechtsorganisationen keine Aussicht besteht, dass die Ergebnisse eines solchen israelischen Ausschusses – ganz gleich, wer ihm angehören würde – das Andauern des antiisraelischen Abgleitens des internationalen Rechtsprechungskomplexes verhindern könnten.
Sollte der Ausschuss auf die Erfüllung einer amerikanischen Forderung angelegt sein, muss man ihn zu einer weiteren Diskussion über die Verbrechen der Hamas und den Missbrauch der internationalen Rechtssprechung in Genf bringen. Der Glaube, dass eine israelische Untersuchung von den UN-Behörden mit Befriedigung aufgenommen und antiisraelische Untersuchungen oder Entscheidungen auf der Basis der „ergänzenden Autorität“ verhindern würde, ist unrealistisch. Die internationale Rechtssprechung ist schlicht gekidnappt worden und unterliegt einem Mangel normativer Zügelung. Die zerstörerische Politisierung und der hemmungslose Zynismus, die von jeder Krise und jedem Völkermord auf der Welt absehen, haben das natürliche Rechtsempfinden in den UN-Menschenrechtsbehörden völlig kastriert. Die internationale Rechtssprechung, insbesondere in seinen humanitären und strafrechtlichen Komponenten, ist zu einer Geisel einer großen Gruppe von Staaten geworden, die zuhause völlig von den Prinzipien von Recht und Gerechtigkeit absehen, die in demokratischen Gesellschaften selbstverständlich sind.
Dr. Avi Becker lehrt im M.A.-Programm für Diplomatie an der Universität Tel Aviv.
(Haaretz, 10.06.10)
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