Eines der am weitesten verbreiteten Mißverständnisse in Bezug auf den Nahen Osten besteht darin, dass der arabisch-israelische Konflikt den Knackpunkt aller Probleme der Region darstellt bzw. dass alle anderen Konflikte mit ihm zu tun haben.
Das schiere Ausmaß an Medienaufmerksamkeit untermauert diesen Eindruck. Laut Angaben des Center for Media and Public Affairs, das jährlich die Tausende von Beiträgen in den Abendnachrichten von ABC, NBC und CBS untersucht, ist der arabisch-israelische Konflikt das einzige außenpolitische Thema, das seit 1990 durchgehend unter den zehn Topthemen in den USA rangiert.
Auch Politiker aus aller Welt – selbst solche, die guten Willens sind – tragen zu jener Annahme bei. So hat bspw. UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon jüngst gegenüber der südkoreanischen Zeitung Hankyoreh verkündet: „Wenn sich die Dinge im Konfllikt zwischen Israel und Palästina gut entwickeln, werden auch andere Probleme im Nahen Osten, einschließlich Libanon, Iran, Irak und Syrien, bald gelöst sein.“
I. Die Irrelevanz von Israel für die meisten Konflikte in der Region
Hier einige Beispiele, die zeigen, wie irrelevant der israelisch-palästinensische Konflikt für die meisten anderen Konflikte in der Region ist und wieviel höher deren Opferrate liegt: - Das Gemetzel zwischen Sunniten und Shiiten im Irak hat nichts mit Israel zu tun. Allein 2006 starben im Irak dabei 34 000 Menschen. - Im iranisch-irakischen Krieg (1980-1988) wurden über eine Million Menschen getötet. Auch dieser Krieg hatte nichts mit Israel zu tun. - Im libanesischen Bürgerkrieg (1975-1990) starben schätzungweise 130 000-150 000 Menschen. - Bei dem jordanisch-palästinensischen Gewaltausbruch im September 1970 (‚Schwarzer September’) wurden binnen eines Monats 10 000 Menschen getötet. - Im Februar ermordeten die Syrer in al-Hama mindestens 20 000 Landsleute. - Während des algerischen Bürgerkriegs (1992-2001) wurden schätzungsweise 75 000-125 000 Menschen getötet. - Im Zuge der „Anfal“-Operation wurden 1988 im Irak 50 000-100 000 Kurden unter Einsatz von chemischen Waffen ermordet. 1991 wurden im Anschluss an den ersten Golfkrieg weitere 30 000-50 000 Shiiten und Kurden von Saddam Hussein ermordet. - Während des 20 Jahre andauernden Bürgerkriegs im Sudan (1983-2002) wurden etwa eine Million Menschen getötet. - Im jemenitischen Bürgerkrieg starben während der 60er Jahre zwischen 100 000 und 150 000 Menschen. Ägypten setzte während des Krieges chemische Waffen ein. - In den Kämpfen zwischen Marokko und der Polisario-Front um die Westsahara wurden zwischen 1975 und 1985 etwa 10 000 Menschen getötet.
II. Die relative Schwere des israelisch-palästinensischen Konflikts
Anders als verbreitete Behauptungen vom „israelischen Völkermord an den Palästinensern“ vermuten lassen, wurden in den sechseinhalb Jahren seit Ausbruch der ‚al-Aqsa-Intifada’ im September 2000 etwa 4000 Palästinenser und 1100 Israelis getötet. Diese Zahlen – wenn auch an sich bedeutend – sind niedrig im Vergleich zu den meisten anderen Konflikten, die in den vergangenen Jahrzehnten stattgefunden haben:
- Allein am ersten Tag des jüngsten Einmarsches Äthiopiens nach Somalia starben 500 Menschen. - Im Laufe der vergangenen vier Jahre haben die arabischen Muslime „Janjaweed“ in Darfur 200 000 schwarze Muslime ermordet, davon 50 000 allein in den ersten sechs Monaten. 2 Millionen wurden verschleppt. - Im zweiten Tschetschenienkrieg (1999-2003) wurden 90 000-160 000 Menschen getötet. - Im Bügerkrieg im Kongo starben schätzungsweise 3.4 bis 4.4 Millionen Menschen. - In Ruanda wurden 1994 innerhalb von nur drei Monaten 800 000 Menschen (bei einer Gesamtbevölkerung von 7 Millionen) ermordet. - Die Serben töteten innerhalb von drei Jahren 200 000 bosnische Muslime (bei einer Gesamtbevölkerung von 2 Millionen). - In Kambodscha wurden zwischen 1975 und 1979 zwei Millionen Menschen von den Roten Khmer ermordet.
III. Der israelisch-palästinensische Konflikt hat die Probleme der Region nicht hervorgebracht
Die zentralen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Probleme des Nahen Ostens haben nichts mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt zu tun.
- 1999 betrug die Analphabetenrate im Nahen Osten 25% bei Männern und 47% bei Frauen. In Rumänien lag die Rate im Vergleich dazu nur bei 1% bzw. 3%, in Peru bei 6% bzw. 15%. Dabei ist die Alphabetisierungsrate unter den Palästinensern mit 90% höher als in jedem anderen Land des Nahen Ostens mit Ausnahme Jordaniens. Auf der anderen Seite haben die schlechten Alphabetisierungsraten in Ländern wie dem Jemen (49%), Marokko (50%), Saudi-Arabien und den VAE (77%) nichts mit der palästinensischen Frage zu tun. - Zwischen 1965 und 2000 wuchsen die Volkswirtschaften des Nahen Ostens nur um durchschnittlich 3.0% pro Jahr. Dies ist nach Afrika südlich der Sahara die weltweit niedrigste Wachstumsrate einer Region. Stellt man das – weltweit höchste - jährliche Bevölkerungswachstum von 2.8% in Rechnung, bedeutet dies ein jährliches Wachstum von nur 0.1% pro Kopf. - Wie aus den UN Arab Human Development Reports hervorgeht, ist eines der Hauptprobleme, die die Region am Fortschritt hindern, die beispiellose Geschlechterdiskrepanz. Abgesehen von der großen Kluft bei den Alphabetisierungsraten existieren ähnliche Unterschiede bei anderen Schlüsselindikatoren wie dem Einkommen. In beinahe jedem arabischen Land verdienen Männern dreimal so viel wie Frauen. So verdienten im Jahr 2002 in Algerien Frauen durchschnittlich 2 700$ und Männer 8 800$. In Bahrain waren es 8 000$ gegenüber 23 500$, in Oman 4 000$ gegenüber 18 2000$ und in Syrien 1 500$ gegenüber 5 500$.
Die Hauptursachen für die Probleme des Nahen Ostens beginnen bei der schlechten Regierungsform in der gesamten Region. Abgesehen von Israel ist jedes Land eine autoritäre Diktatur mit wenig Verantwortlichkeit und keinerlei Norm für „gutes Regieren“.
Außerdem liegt die Region im Brennpunlt der wachsenden Auseinandersetzung zwischen Gemäßigten und Extremisten, wobei der israelisch-palästinenssiche Konflikt nur ein Schlachtfeld darstellt. Jene Konfrontation umfasst sowohl die Acshe Iran-Syrien-Hisbollah-Hamas als auch den globalen Gotteskrieg im Sinne al-Qaidas.
Die genannten Tatsachen sind neben anderen für die sozialen, ökonomischen, politischen und religiösen Spannnungen in vielen Staaten des Nahen Ostens verantwortlich. Zahlreiche politische Führer und Regierungen der Region haben diese Spannungen nach außen gelenkt, oftmals gegen Israel und die westliche Welt.
Der israelisch-palästinensische Konflikt ist somit nicht der Kern der regionalen Instabilität, sondern ein Symptom eben dieser. Ihr Ursprung ist sehr viel komplexer, als es auf den ersten Blick erscheinen mag.
(Außenministerium des Staates Israel, Oktober 2007) |